Gegen Videobehandlungen gab es gerade in der Psychotherapie viele Vorbehalte. Die Corona-Pandemie hat auch hier ein Umdenken nötig gemacht - mit überraschenden Erkenntnissen. Doch ganz so einfach ist die Umsetzung der digitalen Möglichkeiten nicht.
Wenn sich der Patient von Susanna Hartmann-Strauss etwas zurückziehen will, schaltet er die Kamera aus. Schon zu Beginn einer Therapie vereinbart die Psychologin solche Regeln. "Wir können dann ja weitersprechen. Und wenn er wieder bereit ist, signalisiert er mir das durch das Einschalten der Kamera." Ähnliche Vereinbarung gibt es auch für technische Probleme, wenn das Bild einfriert oder der Ton versetzt läuft. "Wir sind hier auf dem Land", sagt Hartmann-Strauss fast schon lapidar, die ihre Praxis in Calw im Nordschwarzwald betreibt. "Technische Probleme begleiten die Videotherapie."
Das führe dann mitunter zu intensiveren Gesprächen: "Wenn ich Mimik und Gestik des Patienten nicht mehr so genau sehen kann, muss ich mehr nachfragen", so Hartmann-Strauss. Und nicht nur das: Nach so vielen Berufsjahren hat die Psychologin in der Corona-Krise die Erfahrung gemacht, dass sich PatientInnen in Videokonferenzen oft eher ihren TherapeutInnen öffnen, als wenn sie ihnen real gegenübersitzen. "Der Patient ist in einem sicheren Umfeld und muss nicht die Hürde nehmen, zu einem fremden Menschen in fremde Räume zu gehen", erklärt sie. Daher trauten sich das auch Menschen, die sonst zum Beispiel wegen einer massiven Angststörung das Haus nicht verlassen hätten.
Hartmann-Strauss hat nun ein Praxishandbuch über Videotherapie veröffentlicht und will diese Form auch nach der Pandemie häufiger nutzen. Sie steht nicht alleine da: Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hat in einer Umfrage herausgefunden, dass 88,5 Prozent der TherapeutInnen sich vorstellen können, auch künftig Videobehandlungen durchzuführen. Es sei keine Notlösung, findet BPtK-Präsident Dietrich Munz. Das Videogespräch sei seit der ersten Corona-Welle im Frühjahr sogar zu einem wesentlichen Instrument geworden, "um überhaupt die Versorgung psychisch kranker Menschen aufrechterhalten zu können".
Allerdings wolle etwa die Hälfte nicht mehr so häufig Videoangebote nutzen wie während der Pandemie. Das größte Hindernis seien instabile Internetverbindungen - auf dem Land der Befragung zufolge fast doppelt so häufig wie in Großstädten. Auch sei Videotherapie nicht für jeden geeignet, sagt Munz und nennt als ein Beispiel schwer traumatisierte Patienten. Schlecht zu erreichen seien auch Ältere oder Menschen, die nicht die notwendige technische Ausstattung haben oder keinen Raum, in dem sie ungestört sind. Kinder seien in Videoschalten schnell abgelenkt oder könnten sich - wie auch Jugendliche - bei Anwesenheit der Eltern weniger frei äußern. Als einen erheblichen Nachteil bezeichnet Munz zudem, dass bei Videobehandlungen die nonverbale Wahrnehmung eingeschränkt sei, also etwa Händereiben oder Schwitzen.
Hartmann-Strauss sieht das entspannter: "Wenn jemand sehr nervös ist und mit dem Fuß wippt, kriege ich das auch so mit." Zudem könne man sich bei dem Gespräch auf Distanz mehr auf Inhalte konzentrieren. Die Beziehung zwischen Therapeut und Patient spiele weniger stark eine Rolle. Allerdings räumt auch Hartmann-Strauss die Grenzen ein: dass sie beispielsweise nicht bemerke, ob jemand nach Alkohol rieche.
Die Vorteile der Videotherapie überwiegen aus ihrer Sicht meist aber klar: "Ich muss zum Beispiel keine Situationen nachstellen", berichtet Hartmann-Strauss. So habe sie kürzlich eine Patientin mit Zwangsstörungen, die Angst vor Keimen hat, in deren Badezimmer behandelt. "Das kann man natürlich auch mit einem Vor-Ort-Termin planen", sagt die Psychologin. "Aber so ist es einfacher zu handhaben." Wenn sie für therapeutische Übungen übers Smartphone zugeschaltet werden, spare das auch die Zeit für Hin- und Rückfahrt.
Andere Länder, in denen große Entfernungen eher ein Thema seien, wie die USA, Kanada und Australien hätten schon früher gute Erfahrungen mit Psychotherapie per Video gemacht, sagt Hartmann-Strauss. Dass das Thema in Deutschland noch nicht so verbreitet ist, liegt auch an den gesetzlichen Vorgaben. So zahlen die Krankenkassen erst seit Oktober 2019 psychotherapeutische Behandlungen per Videotelefonat.
Und selbst nach einer Gesetzesänderung ist nicht jede Art der Therapie per Video erlaubt. "Dies gilt vor allem für die Akutbehandlung", heißt es bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Sie sollte wie auch die Sprechstunde – gerade aufgrund der Krisensituation – weiterhin in der Praxis abgehalten werden. Während der Corona-Krise wurden aber Sonderregelungen getroffen beziehungsweise Vorgaben außer Kraft gesetzt, etwa dass ein/e PsychotherapeutIn höchstens 20 Prozent aller Behandlungsfälle ausschließlich per Videosprechstunde behandeln darf.
Die Bundespsychotherapeutenkammer geht davon aus, dass künftig häufig Präsenz- und Videobehandlung kombiniert werden. So könne vor allem die Behandlungskontinuität verbessert werden, sagt Munz. PatientInnen und PsychotherapeutInnen sollten gemeinsam entscheiden können, ob und wie oft eine Videobehandlung angemessen ist. "Dabei ist eine Psychotherapie aus einer Hand wesentlich, unabhängig davon, ob sie als Präsenz- oder Videobehandlung durchgeführt wird."
Nur wegen der digitalen Möglichkeiten sei sie nun aber nicht überall und dauernd erreichbar, sagt Hartmann-Strauss. "Ich mache ja feste Termine aus." Und auch dass die Nachfrage steige, führt sie weniger auf die Möglichkeit zur Videotherapie zurück, als vielmehr auf Corona: "Wir spüren jetzt vor allem die Folgen der Isolation."