Darmgesundheit beginnt auf dem Teller: Wie Prävention in der Gastroenterologie besser gelingt

Professor Terjung über das enorme Präventionspotenzial der Gastroenterologie, die Herausforderungen bei der Umsetzung gesunder Ernährung und die Rolle von Individuum, Medizin und Politik.

Interview mit Prof. Dr. Birgit Terjung

esanum: Frau Professor Terjung, die Gastroenterologie birgt ein enormes präventives Potenzial. Wie können wir dieses Potenzial besser ausschöpfen?

Prof. Terjung: Das ist gar nicht so einfach. Wir haben kürzlich eine Pressekonferenz zu diesem Thema abgehalten und dabei verschiedene Bereiche beleuchtet. Wir haben uns mit Darmgesundheit im Kontext von Lebensstil- und Ernährungsfaktoren befasst, was wir gerne noch detaillierter besprechen können. Aber es geht auch um Krebsprävention, insbesondere bei häufigen oder zunehmenden Krebsarten wie und Bauchspeicheldrüsenkrebs, sowie um Lebererkrankungen. Die Frage ist: Was können der Einzelne, die Gemeinschaft, die Politik und die Lebensmittelhersteller dazu beitragen? Die Gastroenterologie hat ein riesiges Präventionspotenzial, weil sie so viele Organe umfasst, bei denen der Lebensstil, insbesondere die Ernährung, eine große Rolle spielt. Was wir essen, wird im Körper verarbeitet und sendet Signale an verschiedene Organe, die sekundär erkranken können, sei es durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurodegenerative Erkrankungen wie Demenz oder Diabetes. Die Gastroenterologie steht hier also im Zentrum. Leider ist das Thema Prävention noch weit abgeschlagen und nicht in allen Köpfen präsent, geschweige denn gut umgesetzt.

Individuelle Verantwortung, medizinische Expertise und politische Gestaltung

esanum: Sie haben die Rolle des Einzelnen, der Medizin, der Politik und der Gesellschaft angesprochen. Können Sie das etwas aufschlüsseln?

Prof. Terjung: Wenn man über Prävention nachdenkt, beginnt man am besten bei sich selbst: Was kann ich tun, um gesund zu bleiben? Das ist in erster Linie der Lebensstil: gesund leben, sich ausreichend bewegen – sowohl im Alltag als auch gezielt Sport treiben, nicht rauchen, moderat Alkohol trinken und sich gesund ernähren. Das sind die Lebensstilfaktoren, mit denen jeder bei sich selbst anfangen kann und muss. Dann kommen wir Ärzte ins Spiel – als Experten und oft auch Vertrauenspartner der Patienten. Wir sollten Patienten, oder auch jenen, die zur Vorsorge kommen und noch keine Patienten sind, vermitteln, welche Faktoren wichtig sind, um auf sich zu achten und präventiv tätig zu werden. Gleichzeitig sind wir in der Medizin auch in der Sekundär- und Tertiärprävention aktiv. Das heißt, wir müssen darauf achten, dass Krankheiten nicht fortschreiten, indem wir Lebensstilfaktoren und Ernährung verbessern.

Und dann haben wir die Politik, die durch Kampagnen gefordert ist. Es geht es darum, gesundes Essen allgemein zugänglich zu machen, insbesondere in Gemeinschaftseinrichtungen. Das hätte einen Lerneffekt und Multiplikatoreffekt für andere, auch für Familien, da Kinder aus Kitas oder Schulen lernen, was gesundes Essen ist, und dies nach Hause tragen. Die Politik muss auch darauf achten, dass ungesundes Essen weniger verfügbar ist, indem sie Regularien festlegt, wie gesundes Essen zusammengesetzt sein sollte. Das ist sicherlich der schwierigste Punkt, da es in die Hoheit der Lebensmittelhersteller eingreift. Ein konkretes Werbeverbot für Süßigkeiten und hochverarbeitete Nahrungsmittel, die gerade Jugendliche konsumieren, könnte ebenfalls Einfluss nehmen. Hier werden Interessensgruppen jedoch massiv aufeinanderprallen.

Das Umsetzungsproblem: Erkenntnisse versus Realität

esanum: Die Faktoren, die Sie ansprechen, sind ja nicht neu. Offenbar stecken wir bei der Umsetzung in einer Sackgasse. 

Prof. Terjung: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Richtig. In meiner Alltagsarbeit sehe ich aber auch, dass viele nicht wissen, was gesunde Ernährung ist. Wir haben eben auch ein Aufklärungsthema. Aber vor allem haben wir ein Umsetzungsthema, da die Lobbyarbeit sehr stark ist. Verpackte, hochverarbeitete Lebensmittel mit viel Zucker kommen in den Handel und werden attraktiv positioniert. Sie werden intensiv zu attraktiven Zeiten beworben, in sozialen Medien, in der Außenwerbung. Das muss man sicherlich stärker an die Politik herantragen. Deswegen sind politische Kontakte, auch zum Gesundheitsausschuss, wichtig  um solche Themen mit Nachdruck zu formulieren und wieder auf die Agenda zu setzen. Sie waren ja mal auf der Agenda und sind jetzt leider nicht mehr so präsent.

esanum: Es gibt ja diesen Konflikt zwischen Eigenverantwortung und staatlicher Einflussnahme – viele lehnen staatliche „Erziehung“ ab. Wie kann man damit sinnvoll umgehen, um mehr Akzeptanz zu finden?

Prof. Terjung: Ich glaube, man muss es eher mit positiven Geschichten kommunizieren. Eine Verbotsstory ist nie eine Erfolgsstory. Verbote sind ja dafür da, dass man sie umgeht und sich nicht daran hält. Der eine sagt: "Ich lasse mir doch jetzt nicht die Süßigkeiten verbieten!" Und die Lebensmittelhersteller sagen: "Warum sollen wir uns das verbieten lassen? Das ist doch guter Zucker." Ich habe mal ein Interview über Süßstoffe oder Zuckerersatzstoffe gegeben. Sie können sich vorstellen, was die Süßwaren- beziehungsweise Süßstoffindustrie mir danach für lange Abhandlungen geschrieben hat, wie gesund das alles sei und ich hier zu pauschal urteilen würde. Ein Gesetz wird daran nichts ändern können. Ich denke, ideal wäre der Erkenntnisgewinn, dass man es für sich selbst erkennt und diese Dinge in Maßen konsumiert. Eine Nulllösung wird es nie geben. Man muss irgendwo erreichen, dass die Regale nicht voll sind mit diesen hochverarbeiteten Nahrungsmitteln mit hohem Zucker-, Salz- und Fettgehalt. Aber da stehen nunmal konkurrierende Interessen gegeneinander.

esanum: Gibt es Ideen, wie man Erkenntnisse charmanter und zielgerichteter vermitteln kann, wenn Verbote nicht zielführend sind? Könnte man beispielsweise mit den angesprochenen Lobbyisten konstruktiv zusammenarbeiten?

Prof. Terjung: Ich glaube, man muss sogar mit ihnen reden, weil ganz ohne sie geht es ja nicht. Aber ich frage mich eben: Muss für Chips, für Süßgetränke, überall geworben werden? Muss das auf sein? Muss es dort sein, wo die Jugendlichen ihre Hauptinformationsquellen haben? Es ist ja nicht das Fernsehen, das heute die große Rolle spielt. Es sind die sozialen Medien, wo die Kinder und Jugendlichen ihre Eindrücke erhalten.

Aus Studien weiß man: Wo greift man im Laden am ehesten hin? Ungefähr auf Augenhöhe. Das heißt, einfache Tricks wären, die ungesunden Nahrungsmittel nicht auf Augenhöhe zu präsentieren, sondern eher höher oder niedriger. Man kann auch einfach Nudging anwenden, sodass man Obst und Gemüse mit leuchtenden Farben nach vorn stellt. Da gibt es eine ganze Menge psychologischer Überlegungen, wie man das in Cafeterien oder Kantinen macht. 

Neue Erkenntnisse und die Vermischung von Themen

esanum: Sie sagen, wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Gibt es eigentlich neue oder überraschende Erkenntnisse im Ernährungsbereich? Ihr Thema hieß ja: „Darmgesundheit beginnt auf dem Teller.“ 

Prof. Terjung: Durchbrechende Neuigkeiten gibt es nicht. Letztes Jahr sind ja die aktualisierten Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) herausgekommen, die sehr viel Aufruhr erzeugt haben, weil sie den Anteil der tierischen Produkte drastisch reduziert haben. Also wirklich drastisch: 200 Gramm Fleisch in der Woche, ein Ei pro Woche. Das war jetzt nicht primär nur aus Gründen, dass es ungesund ist, sondern auch mit dem Aspekt der Nachhaltigkeit. Das gab einen Riesenaufschrei, ob das wirklich auch wissenschaftlich so zu halten ist. Jetzt ist da ein bisschen gelockert worden, aber es bleibt dabei: Tierische Produkte, also konkret Fleisch und auch Milchprodukte oder Wurst, sollten auf ein Minimum reduziert werden. Und man wendet sich immer mehr dem Problem der hochverarbeiteten Nahrungsmittel zu. Das ist nicht ganz neu, hat aber ein hohes Potenzial, man muss da wirklich aufpassen. Und dann gibt es das Problem: Woran erkenne ich hoch verarbeitete Nahrungsmittel? Wir haben zwar den Nutri-Score, der aber nicht wirklich Auskunft darüber gibt. Wir haben eine Nova-Klassifikation, die aber keiner einsetzt. Faktisch kann man nur schwer erkennen, ob ein hoch verarbeitetes Nahrungsmittel vor einem im Regal steht. 

esanum: Zurück zur Verbotsdiskussion: Sollte man die Themen Gesundheit und Nachhaltigkeit bei Ernährungsempfehlungen wirklich vermischen? 

Prof. Terjung: Natürlich können Sie es nicht ganz sauber trennen. Im Grunde sind viele Produkte, die mit mehr Bio-Hintergrund produziert werden, im Grunde nach gesünder, weil saisonal, regional produziert. Aber ich gebe Ihnen recht, Nachhaltigkeit und Gesundheit sind nicht unbedingt gekoppelt. Dem Darm ist es erstmal egal, wie das Ei produziert wurde. Der Darm kriegt das Ei oder das tierische Produkt und hat über dieses tierische Produkt dann eine Veränderung in seiner Darmflora und darüber nachgelagert Veränderungen in Stoffwechselprodukten von den Bakterien und darüber dann eben Sekundärerkrankungen, die auftreten können. Die Themen Gesundheit und Nachhaltigkeit, bestehen parallel, weil es gerade inhaltlich passt, aber sie sind nicht kausal verknüpft.

Das war ja der Hauptkritikpunkt letztes Jahr, als die DGE-Empfehlungen veröffentlicht wurden. Da ging es um das Ei. Wir waren kurz vor Ostern und es kamen ständig die Presse-Anfragen, ob man jetzt nur noch ein Ei essen sollte. Die vorherigen Empfehlungen sagten: zwei bis drei Eier pro Woche und das ist nach wie vor auch okay. Aber da die DGE bei ihren Empfehlungen erstmals auch Aspekte der nachhaltigen Produktion bei ihren Empfehlungen berücksichtigt hatte und sich vor allem auch klar positioniert, dass Nachhaltigkeit ein wichtiger Bestandteil unserer Ernährung sein sollte, da kam eben dieses eine Ei als Empfehlung dabei heraus. 

esanum: Gibt es denn überhaupt Menschen, die sich an ein Ei pro Woche halten? Kennen Sie jemanden? Machen Sie das selbst?

Prof. Terjung: Ich halte mich daran, weil es mir leichtfällt. Ich esse gerne wenig Fleisch und Ei, ohne dogmatische Gründe. Natürlich sündigt jeder mal, und das ist auch in Ordnung. Das Ideal ist, dass gesunde Ernährung zur zweiten Natur wird und keine ständige Anstrengung erfordert.

esanum: Manche Ernährungswissenschaftler vertreten die Theorie, dass wir uns das gönnen sollten, wonach uns gelüstet, wenn wir ein bewusstes und informiertes Gefühl dafür haben, was uns guttut.

Prof. Terjung: Absolut, da stimme ich voll zu. Diät funktioniert meist nur temporär, weil man sich danach umso mehr nach dem sehnt, auf das man verzichtet. Sahnetorte? Klar, die darf man essen! Aber eben nur ein Stück, nicht die ganze Torte. Oder einen Keks, nicht die ganze Packung. Ich glaube, das Maß ist entscheidend, nicht der komplette Verzicht.

Ich bleibe dabei: Wir müssen gesundes Essen im Alltag integrieren, in Kitas, Schulen, Seniorenheimen und Krankenhäusern. Kürzlich wurden bei uns im Krankenhaus Snacks wie Chips und Schokolade für die Privatpatienten geliefert, angeblich auf Wunsch von Krankenkassen, um ein breites Angebot an Zwischenmahlzeiten anzubieten. Ich habe nur gesagt: „Das kann doch wohl hier nicht wahr sein! Den Katalog möchte ich sehen.“

esanum: Diese Kataloge, die festlegen, was wünschenswert, gesund und empfehlenswert ist oder wovon man besser die Finger lässt – werden die eigentlich regelmäßig aktualisiert?

Prof. Terjung: Ja, die mediterrane Kost bleibt weiterhin der Goldstandard, weil sie so gut verständlich ist. Ich glaube nicht, dass wir uns grundsätzlich von dieser Nährstoffzusammensetzung verabschieden werden. Es gibt lediglich immer wieder Anpassungen, etwa bei der empfohlenen Menge an Fleisch oder anderen tierischen Produkten. 

Warum Erkenntnisse schwer durchdringen und die Rolle der Ärzte

esanum: Was glauben Sie, warum dringen die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einer guten Ernährung eigentlich so schwer zu den Menschen durch?

Prof. Terjung: Das liegt wohl daran, dass Essen stark lustgesteuert und oft nicht selbst gut kontrollierbar ist. Das Überangebot in Geschäften und die geringe eigene Widerstandsfähigkeit gegenüber Verlockungen sind entscheidend. Wenn wir uns die vielen anschauen, wird klar, dass das verführerische Angebot an zucker- und kalorienreichen Zusatznahrungsmitteln wie Süßgetränke oder zuckerhaltige Snacks eine große Rolle spielt.

esanum: Was können Ärzte besser machen, um noch mehr Menschen dazu zu bringen, sich bewusster, gesünder zu ernähren? Welche Rolle spielen die Ärzte, die niedergelassenen Ärzte?

Prof. Terjung: Ärzte sollten eine Ernährungsanamnese durchführen und das Thema ausführlich besprechen. Doch oft höre ich von Patienten: „Ich esse kaum etwas und nehme trotzdem zu.“ Wenn man dann tiefer gräbt, fehlt dem Hausarzt schlicht die Zeit. Eine detaillierte Ernährungsanamnese braucht Zuhören und mehr als fünf Minuten. Daher wird das Thema schnell abgehakt, der Patient wird mit Broschüren allein gelassen, und nicht jeder hat Zugang zu einer Ernährungsberatung oder bekommt sie bezahlt.

esanum: Was muss sich ändern?

Prof. Terjung: Wir müssen die Ernährungsmedizin stärker fördern, sowohl in Praxen als auch in Krankenhäusern. Das bedeutet: Ernährungsberatung braucht eine eigene Vergütungsziffer, die über eine kurze Konsultation hinausgeht. Aktuell können Ernährungsteams in Krankenhäusern ihre Leistungen kaum abrechnen, was die Finanzierung von Personal und Strukturen erschwert. Daher kommt Ernährungsberatung oft zu kurz – Ärzte und Ernährungsberater haben keine Zeit für unbezahlte Leistungen.

esanum: Was tun Sie und die DGVS, um das voranzubringen?

Prof. Terjung: Als wissenschaftliche Fachgesellschaft setzen wir uns für eine qualifizierte Weiterbildung zum Ernährungsmediziner ein und bieten entsprechende Kurse an. In Kooperation mit anderen Fachgesellschaften wollen wir erreichen, dass Ernährungsleistungen fest im Abrechnungssystem – in Praxis und Klinik – verankert werden. Wir machen in den relevanten Gremien Druck, damit die Ernährungsmedizin ihren verdienten Platz findet.

Der Großteil der Bevölkerung ernährt sich problematisch

esanum: Abschließend: Haben Sie eine Einschätzung, wie viele Menschen sich problematisch ernähren, oder umgekehrt, wie viele sich gesund und wünschenswert ernähren?

Prof. Terjung: Ich kann das mit Zahlen aus einer europäischen Studie beantworten, an der 10.000 Teilnehmer aus 17 Nationen teilnahmen. 65% gaben an, zu wissen, was ungesunde Ernährung ist. Doch am Ende des Tages bestand die Kalorienzufuhr von etwa der Hälfte der Befragten zu über 50% aus hochverarbeiteten Nahrungsmitteln. Ich würde sagen, eine relevante Zahl von Menschen ernährt sich ungesund. 

Wer ist Prof. Dr. Birgit Terjung?

Prof. Dr. med. Birgit Terjung ist Fachärztin für Innere Medizin, Gastroenterologie, Ernährungsmedizin, Chefärztin der Abteilung für Innere Medizin/Gastroenterologie sowie Ärztliche Direktorin bei GFO Kliniken Bonn. Zudem ist sie als Lehrbeauftragte an der University of Applied Science Bonn-Rhein-Sieg tätig sowie Vorstandsmitglied DGVS - Mediensprecherin.